Kunst ist, was man draus macht. Der Reißverschluss.
Eisen ist sein Ding: als Kranschlosser und als Künstler. Aus Schrott fertigt der »Klüngelskerl« Skulpturen und Plastiken: »Mit den Figuren bleibt etwas von mir in Erinnerung.«
Die Stimmung ist trostlos auf dem Betriebsgelände des Schalker Vereins in Gelsenkirchen - trotz Sonnenschein. 3300 Menschen arbeiteten 1975 in der Gießerei, jetzt verlieren sich noch knapp 400 auf dem 1,5 Quadratkilometer großen Areal. Es riecht nach Abwicklung. »Einfach Scheiße«, sagt Hans Achim Wagner. Er sagt das oft an diesem Tag. Immer dann, wenn ihm die Worte ausgehen, um die Atmosphäre von Misstrauen und Angst im Betrieb zu beschreiben.
Seit seinem 14. Lebensjahr arbeitet Wagner hier, gehört seit 22 Jahren und damit am längsten von allen zum Betriebsrat. Jetzt ist er 48 Jahre alt. Seine Haare sind grau, seine Schultern nach vorne gebeugt. Freundlich scheint die Sonne auf ein weißes Haus, 500 Meter vom Unternehmen entfernt. »Frau Kunterbunt mit Hund« steht im schmalen Vorgarten, eine Figur aus Eisenrohren, farbig und fröhlich. Hans Achim Wagner hat sie gemacht, aus dem Material, mit dem er als Kranschlosser arbeitet. Arbeitete, muss man jetzt sagen.
Hinter dem Haus stehen mächtigere Figuren, wuchtige und ernst wirkende Plastiken. Verzinkt sind die meisten, nicht mehr kunterbunt. Eine »Frau mit Kinderwagen« ist darunter, ein »Minotaurus«, ein »Faun« und ein »Reißverschluss-Paar«.
Gefertigt hat Hans Achim Wagner die Figuren aus Schrott, aus Abfall, den er sammelt und den die Kollegen ihm geben, dem »Klüngelskerl«, dem, der alles brauchen kann. »Soll ich mein Leben lang Kräne reparieren und mit 66 womöglich an Krebs sterben? Nein! Mit den Figuren bleibt etwas von mir in Erinnerung!«, sagt der Schlosser.
Auch der Spaß am Material treibt ihn an. »Eisen ist mein Ding«, sagt er. »Eisen kann ich. Und Eisen is' was Schönes!« Er lacht und lehnt sich zurück auf dem Wohnzimmerstuhl. Jungenhaft wirkt er, froh und ganz zufrieden mit sich. Stolz zeigt er Fotografien seiner Arbeiten, 80 große Figuren hat er bisher geschaffen, dazu viele kleine, oft die Vorläufermodelle. In den Bildungszentren Sprockhövel und Lohr wurden sie schon gezeigt, auch im Arbeitszimmer des Oberbürgermeisters von Gelsenkirchen.
Riesige Schrauben verarbeitet Achim Wagner zu Augen, Zeltheringe zu einem langen Schnabel — nach Feierabend, an seinem alten Arbeitsplatz, der Kranschlosserei. Erstaunlich leicht wirken die schwergewichtigen Figuren; elegant ist Eisen, wenn's nur richtig geformt wird. Picasso, Rodin, Namen von Künstlern und Literaten purzeln aus Wagners Mund. Viel hat er gelesen und studiert. Vielleicht redet er deshalb so bescheiden über die eigene Arbeit. Dabei sind seine Talente vielfältig: Kurzgeschichten schreibt er auch und Gedichte, die er neben den Figuren in Ausstellungen präsentiert. Er zeichnet und hat auf einer selbst gebauten Presse expressive Holzschnitte gedruckt. Viele starke Arbeiterarme und erhobene Fäuste sind da zu sehen. Könnte handwerklich besser sein, meint er nun lakonisch.
Wagner wird seinen alten Arbeitsplatz jetzt nur noch nach Feierabend betreten. Nach einem Zwischenjob als Stellensucher für entlassene Kollegen arbeitet er künftig als Brandschutzexperte für den Gießereibetrieb. Das betriebliche Vorschlagswesen soll er auch betreuen. »Dass die Mundwinkel wieder hochgehen bei denen, die dann noch da sind«, dafür will er sorgen.
Quelle: Das Monatsmagazin IGM metall Mai 2000
Autorin: Annette Hillebrand